Feature (2013)
„Wir können die Welt nur retten, wenn wir aufhören Tiere zu töten“ (Albert Einstein)
Lange Zeit wurden sie als weltfremde Spinner belächelt, wenn nicht sogar als gefährliche Extremisten angefeindet: Veganer verzichten nicht nur auf Fleisch, sondern wollen auch mit Milch, Käse, Leder und Wolle nichts zu tun haben. Aber mit dem zunehmenden Bewusstsein um tierquälerische Massentierhaltung - und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken für den Menschen sowie den drastischen Folgen für Umwelt und Klima - gewinnt diese Lebenshaltung immer mehr Anhänger.
Die Schlange vor dem „Royal Kebaphaus“ am Münchner Hauptbahnhof reicht bis zur Straße. Die Spezialität des Imbisses hängt an dem bekannten Grillspieß. Das Besondere: Für diesen Döner musste kein Tier sterben: Der „Veggie-Döner“ besteht aus dem Weizeneiweiß Seitan und ist zu 100 Prozent vegan. Zehn Jahre lang hatten Isik und ihr Mann Erbil Günar an ihrer Erfindung gefeilt, bis sie sie vor sieben Jahren erstmals in ihrem Döner-Laden als Ergänzung zu dem Fleischspieß verkauften. In den Anfangsjahren war die Innovation ein trostloser Ladenhüter, erinnert sich Isik Günar, die sich damals die Frage gestellt hatte, wie man eine Alternative zum Billigfleisch schaffen könnte: „Am Anfang wurden nur ein paar Döner pro Woche verkauft, es gab viel Spott und Kritik.“ Erst vor zwei Jahren habe das Geschäft mit dem Seitan-Snack begonnen, richtig zu boomen, seitdem steigt der Umsatz kontinuierlich. Begeisterte Kunden kommen für die Spezialität mittlerweile aus ganz Deutschland angereist. Seit Neuestem gibt es jetzt sogar einmal im Monat einen komplett fleischfreien Tag in der Imbissbude. Das Angebot wurde auch von den Fleischessern positiv aufgenommen. Kritik gab es keine, dafür ein volles Haus.
Die Grünen waren mit ihrem Vorschlag, einen „Veggie-Day“ einzuführen, im Wahlkampfgetöse gescheitert. Wenn es um die Wurst geht, hört für viele der Spaß auf: ein fleischfreier Tag in der Woche sei totalitäre Bevormundung, so das Echo in vielen Medien und Leserkommentaren. In die Diskussion schaltete sich auch die Ökotrophologin Ulrike Gonder ein, die ausgerechnet in der den Grünen nahestehenden Tageszeitung „Taz“ erklärte, der Veganismus sei eine Sackgasse.
Nichtsdestotrotz steigt die Zahl der Veganer hierzulande kontinuierlich. Der Vegetarierbund Deutschland schätzt die Gruppe der in Deutschland lebenden Vegetarier auf mittlerweile sieben Millionen. Davon ernähren sich mindestens 800.000 Menschen vegan, wobei ihr Anteil immer größer wird. Seit 1983 hat sich die Zahl der Vegetarier mehr als verfünfzehnfacht, ermittelte die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK).
Während der Umsatz mit Fleischalternativen entsprechend steigt, sinkt die Fleischproduktion. Im dritten Quartal 2013 wurden laut Statistischem Bundesamt wurden 9.300 Tonnen weniger Fleisch als im Vorjahresquartal erzeugt, das entspricht einem Rückgang von 0,5 Prozent. Bereits 2012 verzeichneten die Schlachtzahlen einen Rückgang von fast zwei Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Neben den immer wiederkehrenden Fleischskandalen und den Diskussionen um unhaltbare Zustände in den Tierfabriken wird die Debatte um eine vegane Lebensweise zusätzlich durch den Klimawandel befeuert. Die Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) stellte bereits im Jahr 2006 fest, dass 18 Prozent des Klimawandels durch Tierhaltung verursacht werden. Der gesamte Verkehrssektor belaste das Klima demgegenüber „nur“ mit 13,5 Prozent. „Ein Hamburger verursacht 200 Dollar Umweltfolgekosten, von Getreidespekulationen und verhungerten Kindern ganz zu schweigen. Und wir tun immer noch so, als wäre Fleischessen eine Privatsache“, empört sich etwa der Kabarettist Hagen Rether in seinem Programm. Totalitär sei nicht der „Veggie-Day“, sondern unser Umgang mit der Natur. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum sich nun auch der Klimaaktivist Al Gore („Eine unbequeme Wahrheit“) entschieden hat, vegan zu leben.
„Veggie-Day“ hin oder her – der vegane Lifestyle ist gefragt wie nie. Immer mehr vegane Restaurants öffnen ihre Pforten in den Großstädten. Eines davon ist das vor drei Jahren eröffnete „Max Pett“ in München. Die Besucherzahlen waren in den ersten beiden Jahren relativ konstant, aber in diesem Jahr sind sie deutlich gestiegen, stellt Geschäftsführer Cosimo Patisso fest: Das Restaurant sei jeden Tag ausgebucht. Das Publikum ist durchaus gemischt, nicht nur Veganer, auch Vegetarier und Fleischesser kommen - aus Neugierde oder weil sie sich gesünder ernähren wollen.
Ein Supermarkt für die Veganer
Seit 2013 gibt es in München sogar den ersten komplett veganen Supermarkt. Das „Radix“ startete vor 16 Jahren als Online-Shop, 2008 kam ein kleines Ladengeschäft in Giesing dazu. Im Mai 2013 eröffnete dann das mehr als doppelt so große Geschäft in der Thalkirchner Straße, mit deutlich erweitertem Sortiment. „Hier kommt viel mehr Laufkundschaft vorbei, auch viele Nicht-Veganer, die aus Neugier reinschauen“, erzählt Verkäufer Anton. Während die Kundschaft früher vor allem aus Menschen aus der alternativen Szene bestand, sei das Publikum heute sehr gemischt. Nicht nur überzeugte Veganer, auch Menschen mit Allergien oder Laktose-Intoleranz besuchen das Geschäft. „Der Altersdurchschnitt der Kundschaft ist mit der Zeit etwas gestiegen, der Anteil der gutbürgerlichen ‚Normalos’ wird immer größer“, stellt Anton fest. Er selbst lebt seit zwei Jahren vegan, der Impuls kam über Freunde, die sich bereits vegan ernährten: „Es war ein schrittweiser Prozess, am Anfang wollte ich auf manches nicht verzichten.“
Wer sich im „Radix“ umsieht, ist allerdings erstaunt, wie wenig Verzicht heute sein muss: Das Angebot in den Regalen reicht von Sojamilch bis zu Käse, veganer Weißwurst, Gummibärchen, Speiseeis und Wein – sogar vegane Schuhe gibt es. Die Preise sind moderat und widerlegen das Vorurteil, des kostspieligen veganen Lebensstils. Wer noch vor zehn Jahren im Bioladen gerade mal eine Sorte Tofuwürstchen bekam, hat heute die Qual der Wahl. Der Umsatz mit Fleischalternativen hat sich nach Angaben des Vegetarierbund Deutschland innerhalb von vier Jahren nahezu verdreifacht.
Einen guten Anteil am Vegan-Boom hat der Buchautor Attila Hildmann. Bei ihm begann das Umdenken vor etwa zehn Jahren, als sein Vater einen Herzinfarkt erlitt. Er fing an, sich intensiv mit dem Thema „gesunde Ernährung“ zu beschäftigen und machte einen hohen Cholesterinspiegel für den Tod seines Vaters verantwortlich. Als Erstes strich er das Fleisch aus seinem Speiseplan, später auch alle anderen tierischen Produkte. 2011 erschien sein erstes Kochbuch „Vegan for Fun“, ein Jahr später der Bestseller „Vegan for Fit“, der es auf Platz drei der Focus-Bestsellerliste schaffte. Beide Bücher waren unter den Top 10. „Es ging mir nie darum, ein besserer Mensch zu sein als andere, nur weil ich mich anders ernähre“, sagt Hildmann: „Ganz ohne weltverbessernde Ideologien und Ansprüche fällt es auch viel leichter, das Projekt, vegan und gesünder zu essen, zu beginnen.“
Um sich dauerhaft und konsequent tierleidfrei zu ernähren, reicht es allerdings wohl nicht, den Veganismus nur als hippen Lifestyle zu begreifen. Davon ist auch Christina Focke von der Albert Schweitzer Stiftung überzeugt, die sich für die Rechte der Tiere einsetzt. In der Hipster-Hauptstadt Berlin beobachtet sie, dass sich immer mehr Menschen aus gesundheitlichen Gründen für das Thema interessieren, gerade weil das Thema oft in den Medien aufgegriffen wird und weil sich viele von den Kochbüchern Hildmanns angesprochen fühlen. „Aber immer mehr Menschen wird auch der ethische Aspekt bei der Ernährung immer wichtiger, daher glaube ich dass es eine langsame aber nachhaltige Entwicklung ist“, so Focke.
Einer, der sich schon fast sein ganzes Leben lang vegan ernährt, ist der US-Schauspieler Joaquin Phoenix. „Das systematische Quälen und Töten von empfindungsfähigen Wesen zeigt den tiefsten Punkt an Würdelosigkeit, den die Menschheit erreichen kann“, sagt er in dem vielbeachteten Dokumentarfilm „Earthlings“, der schon einige dazu gebracht hat, ihre Ernährung zu überdenken. Phoenix betont: „Ich bin nicht aus gesundheitlichen Gründen Veganer, sondern wegen der Tiere“.
Und selbst der vielgescholtene „Veggie-Day“ findet zunehmend Befürworter – mitunter auch von völlig unerwarteter Seite. In einem Interview mit dem „Handelsblatt“ lobte unlängst ausgerechnet Christian Rauffus, Chef der Rügenwalder Mühle, – und damit eines der größten Wurstproduzenten des Landes – den Vorschlag der Grünen: „Ich bin der Meinung, dass wir zu viel Fleisch essen“.
Till Dziallas